In der Geschichte der Videospiele gab und gibt es Schrott, Modeerscheinungen, Hypes, Solides, verdammt Gutes, Zeitloses und Spiele, die uns so gefasht haben, dass man sie nie wieder vergisst. Shenmue als Gesamtwerk gehört für mich persönlich nicht nur in diese letzte Sparte, die Spiele Shenmue 1 und 2 führen diese Sparte unangefochten an. Warum das so ist will ich jetzt erläutern und dabei so subjektiv wie es nur geht sein.

Eigentlich war ich schon immer ein Videospieler. Ich habe mit 7 Jahren mit den ersten Pongklonen gespielt, die mein Vater heimbrachte, habe die Texas Instruments und Commodore Homecomputer meiner Onkel vergewaltigt und irgendwann meine erste eigene Heimkonsole in Form des Sega Megadrives gekauft. Mit diesem hab ich den Schritt auf die CD-ROM gemacht und abschließend die Erweiterung auf 32-Bit durchgezogen, was mich so sehr enttäuschte, dass ich von Konsolen vorerst nichts mehr wissen wollte und auf PC weitergespielt habe. Trotz des totalen Ignorierens von Playstation, Saturn und Nintendo 64, bin ich irgendwann im Jahr 2000 auf ein Spiel namens Shenmue aufmerksam geworden. Ich weiß nicht mehr, ob es eine Werbung oder ein Bericht im Fernsehen war, ich weiß nur, dass ich dieses Spiel unbedingt haben musste. Für 300 DM habe ich mir eine Dreamcast mit drei Spielen auf ebay geschossen und neben irgendeinem Wrestlingspiel und Record of Lodoss War auch das heiß ersehnte Shenmue erstanden. Anschließen, auf die Couch hauen, Shenmue spielen.

Das Intro zu Shenmue

Direkt das Intro hat mich schon von den Socken gehauen. Ein junger Mann läuft durch den fallenden Schnee eine Straße hinauf, betritt das heimatliche Grundstück und wird Zeuge, wie der eigene Vater von einem traditionell gewandten Chinesen mit einem einzigen Schlag eiskalt getötet wird, während die Schergen des Killers angewiesen werden einem Jadespiegel zu suchen. Von unbändiger Rachsucht getrieben greift der junge Mann den Mörder seines Vaters an und wird beim Versuch ins Reich der Träume geschickt. Als er Tage später wieder auf den Beinen steht, schwört er Rache und macht sich auf die Suche nach Hinweisen auf diesen Mann in der chinesischen Robe. Bis dahin war mir eine dermaßen packende, realistische und vorallem cineastische Präsentation in einem Spiel vollkommen fremd. Orchestraler Soundtrack, lippensynchrone Sprachausgabe, ausgefeilte Kameraperspektiven und individuelle Charaktere, die sich nicht nur durch Haarfarbe und Frisur unterscheiden, erzeugten bereits in den ersten Minuten die absolute Faszination.

Nun übernimmt man die Kontrolle über den jungen Mann namens Ryo und versucht so schnell wie möglich die aktiven Interaktionspunkte zu finden, um neue Aktionen auszulösen. Denkste! Shenmue führt den geübten Adventurespieler gehörig auf’s Glatteis. Man erforscht mit Eifer und Neugier das eigene Haus, spricht mit der treuen Haushälterin und dem Karateschüler des Vaters und findet wenig bis gar nichts. Erst im Verlauf der ersten Gespräche merkt man, dass es sich bei diesem Spiel nicht um das Abklappern bestimmter Instanzen handelt. Es geht darum Beziehungen zu den Charakteren aufzubauen, die Sorgen und Ängste der Freunde zu erleben und die eigene blinde Motivation nachzuvollziehen. So verlässt man auch bald die eigenen vier Wände und fragt sich nach der schwarzen Limosine durch, die an jenem Tag, als der Schnee zu Regen wurde, durch die Stadt jagte. Man trifft das Mädchen, welches offensichtlich in Ryo verliebt ist und das ebenso eindeutig von Ryo nur als „gute Freundin“ betrachtet wird, man findet ein junges Kätzchen, welches von nun an gepflegt und gefüttert werden will. WTF? Ist das ein Spiel oder gucke ich mir hier GZSZ an?

Ein Spiel, ganz sicher ein Spiel, es muss ein Spiel sein! Warum sonst hätte ich jetzt mitten in einer Cutscene einen Knopf drücken müssen? Geht’s eigentlich noch? Was ist aus dem entspannten Zwischensequenzgucken als Belohnung für den geleisteten Spielfortschritt geworden? Stattdessen hab ich jetzt einen Fußball in die Fresse geschossen bekommen und schaue etwas belämmert aus der Wäsche. Aber anstatt eines „Game Overs“ wird diese Szene in das laufende Spiel eingebaut und weitere Reaktions- und Tastentests werden nötig. Schwubdiwupp hat man die Idioten auf die Matte geschickt und weiter läuft die Sequenz, nun aber in Habachtstellung und mit Controller im Anschlag.

Gabelstaplerfahren – auch das ist Shenmue

Weiter geht’s durch das schneevermatschte Dobuita. Wir sprechen mit Passanten, mehr oder weniger guten Freunden, gehen in die Spielhalle ein bisschen Space Harrier oder Hang On zocken, oder trainieren auf dem leeren Parkplatz unsere Kampfkünste. Man merkt schnell wie bedeutungslos der Begriff Zeit ist. Man schlendert durch die Stadt, man quatscht mit den Leuten und folgt dem einen oder anderen Hinweis oder geht einfach ins Arcade und verballert das tägliche Taschengeld. Während sich das Wetter dreht und es allmählich dunkel wird, ist klar, dass man hier eine Art Simulation japanischen Alltags mit spektakulärer Hintergrundgeschichte spielt. Jetzt piepst auch noch die Armbanduhr und erinnert mich daran, dass ich spätestens um 23 Uhr hätte zu Hause sein sollen, dabei wollte ich doch noch etwas Katzenfutter kaufen und ein paar Figuren aus dem Kaugummiautomaten ziehen. Das gibt Mecker von Inei-san.

So, da schreibe ich vor mich hin und merke gar nicht, dass ich hier nicht mehr als eine grobe Inhaltsangabe der ersten 1-2 Spielstunden abgewickelt habe. Was macht Shenmue den nun zum verdammt besten Game ever? Es ist das Gesamtbild, welches hier gezeichnet wurde. Der Tod des Vaters löst im jugendlichen Ryo unbändige Rachedurst aus und an seiner Seite begibt man sich auf eine Reise der Erkenntnis und des Erwachsenwerdens. Läuft man anfangs noch relativ stupide durch die Gegend und fragt den Leuten Löcher in den Bauch, mischen sich scheinbar nebenher starke Motive der Martial Arts, der Mystik und der Freundschaft ein. Auch wenn Ryo ein geübter Kämpfer ist, muss man als Spieler ständig trainieren, um die Fähigkeiten zu verbessern, um trotzdem nicht unbesiegbar zu sein. Mehr als einmal unterliegt man in einem Kampf, ohne dass es zum Spielende führt. Diese Kämpfe können zwar auch gewonnen werden und ändern kleine Details im Ablauf der Geschichte, aber unterm Strich bleibt die Erkenntnis, dass nicht jeder Konflikt mit einem Kampf gelöst werden muss. Allein dieses Motiv ist für ein Spiel eher ungewöhnlich.

Ungewöhnlich ist auch, dass der erste Teil an einer Stelle aufhört, die man nicht erwartet. Ryo verlässt seine Heimat und reist nach Hong Kong, um dort weiteren Spuren nachzugehen. Auf den zweiten Teil musste ich über ein Jahr warten und so ganz nebenher akzeptieren, dass Shenmue 2 einer der letzten offiziellen Dreamcasttitel werden sollte. Damn you, Sega! Aber was für ein „letztes Spiel“ das war. Wie Teil 1 befand sich das Spiel auf 4 Disks, war aber dank besserer Komprimierung um ein Vielfaches umfangreicher als der Vorgänger und ging nahtlos dort weiter, wo wir Ryo verlassen hatten. Man konnte sogar den letzten Spielstand importieren, um die Geschichte am individuellen Punkt wieder aufzumehmen.

Intermission
Zu dieser Zeit war ich Moderator für eine kleine aber feine Dreamcast Savegame Community. Der Seitenbetreiber wurde für kurze Zeit zur Berühmtheit in der internationalen Dreamcastszene, weil er es irgendwie geschafft hat die Spielstände der US-Version umzuwandeln, um sie mit der EU-Version kompatibel zu machen. Für die Amerikaner war es nämlich zu der ungewohnten Situation gekommen ein Spiel aus Europa importieren zu müssen. An diese Stelle Gruß an BigRib!
Intermission Ende

Auch wenn Hong Kong nur aus einem kleinen Teil des Hafens und aus Kowloon bestand, war die Atmosphäre grandios. Man war gezwungen Geld zu verdienen, um die Unterkunft bezahlen zu können, wurde ausgeraubt, befreundete sich mit zwilichtigen Gesindel und lernte neue Philosphien und Kampftechniken von diversen attraktiven jungen Damen und alten Meistern. Mein persönlicher Höhepunkt war allerdings keiner der großen Kämpfe oder Verfolgungsjagden, sondern eine Wanderung durch die Berge und Schluchten von Gui Ling. Es gehört zu einer meiner stärksten Erinnerungen an dieses erste Durchspielen. Es war nachts um 1 Uhr, ich war eigentlich hundemüde und wollte nur noch kurz sehen, was als nächstes passiert. Am Ende habe ich nicht bemerkt, wie es draußen hell wurde, während ich total gebannt und fasziniert durch die digitale Wildnis Chinas spaziert bin. Morgens um acht stand ich dann in einer großen Höhle, hatte mehr Fragen als Antworten und sehe fassungslos den Abspann.

Pseudotrailer zu Shenmue 3

Und da stehe ich beziehungsweise Ryo heute noch. Nach über 8 Jahren wurde diese grandiose Geschichte und in jeder Hinsicht wegweisende Spiel nicht beendet. Es gab ein paar Versuche das Franchise wieder zu beleben, aber mal abgesehen von einem großartigen Trailer für Shenmue Online und einem jüngst angekündigten Social Media Game gab es nichts außer Gerüchte, Hoffnung und Enttäuschung. Angeblich ist das Thema noch nicht vom Tisch und wenn einer der Majors sich entschließen würde das Spiel exklusiv zu produzieren, könnte vielleich noch was daraus werden. Aber sind wir mal ehrlich: Das Spiel war eines der teuersten Spiele überhaupt, konnte nicht annähernd so gut verkauft werden, wie man es sich erhofft hat und selbst die Neuauflage für die XBox blieb wenig beachtet. Ich persönlich hoffe einfach darauf irgendwann mal irgendwas zu sehen, was die Geschichte beendet. Ich kaufe jedes Buch, Comic, Hörspiel oder cineastische Verbrechen, aber bittebittebitte erzählt die Geschichte zu Ende. So, jetzt hab ich es geschafft mich in meine typische Shenmue-Melancholie zu versetzen. Bleibt mir wohl nicht anderes übrig als den persönlich signierten Soundtrack einzulegen, während ich die beiden Schuber in den Händen wiege. Vielleicht ist auch ein 14tes Durchspielen beider Teile drin.

EDIT

Diesen Artikel habe ich 2010 verfasst. Mittlerweile haben wir das Jahr 2016 und die Ankündigung zu Shenmue 3 hat sich zum ersten mal gejährt. Wer hätte gedacht, dass all das Schreiben, Tweeten und Rumnerven irgendwann mal Früchte trägt und ca. 16 Jahre nach Erscheinen von Shenmue 2 tatsächlich ein dritter Teil veröffentlicht wird? Crowdfinanziert und sicher nicht State of Art eines modernen Videospiels, aber es geht weiter. Und sollte Shenmue 3 ein Erfolg werden (wie auch immer dieser definiert wird), wird es nicht der letzte Teil werden. Bleibt nur zu hoffen, dass Sega doch noch den Schuss hört und die Originale in irgendeiner Art und Weise rechtzeitig wiederveröffentlichen. In diesem Sinne: #SavedShenmue #SaveShenmueHD